Noch mehr Wulffen

14.01.2018 – 25.02.2018

33 weitere Bilder der Serie Unfinished/Finished kamen im Dezember aus den USA nach Reutlingen. Und eigentlich sollten diese still und leise zu den bereits vorhandenen 23 Arbeiten in die bestehende Ausstellung eingefügt werden. Doch als die Neuen ausgepackt waren, wurde klar, dass sich nicht allein die Quantität verändert hatte. Da war nicht nur Noch mehr Wulffen, sondern auch ein ganz anderer Wulffen.

Pergamonaltar, 1.H. 2.Jhdt v.Chr.

Waren die bislang gezeigten Bilder formal und farblich eher zurückhaltend, ihre Gemeinsamkeiten größer als ihre Unterschiede, so tauchen nun plötzlich "wilde Arbeiten" (Zitat CW) auf. Bildformat und Bildprogramm (Streifenraster) sind zwar dieselben, doch auf einigen Bildern sind nun nicht nur Pigment, Acryl und Kebeband aufgetragen, sondern auch U-Klammern in die Leinwand getackert. Anderswo decken Klarsichtfolie oder mit großen Metallklammern befestigte Glasscheiben die Bildfläche ab. Und nicht nur vom Material her gibt es Überraschungen. Eine Arbeit trägt zwischen den Horizontalstreifen eine Auflistung von Wörtern (von "Abbilden" bis "Spiegeln"), eine andere wird durch zwei aufgetackerte Bildpostkarten zur Collage, und drei Bilder brechen sogar das ansonsten strenge Gesetz der Orthogonalität, zwei durch Diagonalstreifen, eines durch eine breite, malerisch verwischte Zick-Zack-Linie.

Teppich von Bayeux, 2.H. 11.Jhdt

Die neue Präsentationsform der nunmehr 56 Arbeiten, nicht mehr einzeln verteilt zwischen den konkurrierenden Werken der Kabinettstücke, sondern ohne Zwischenraum, Kante an Kante,
in langer Reihe an zwei Wänden, zeigt ungestört die ganze Bandbreite der Unfinished/Finished-Serie. Die Art und Proportion der Reihung erinnert an antike oder mittelalterliche Bildfriese oder an ein aufgefaltetes Leporello. Nicht zufällig heißt der Obertitel der Serie Text on canvas.

Leuven Chansonnier, Ende 15.Jhdt

Bücher, Texte, Fotografien, Ziffern und Buchstaben sind von Beginn an ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von Christian Wulffen. Ob in Zeichnung, Malerei, Plastik oder Installation, Wulffen argumentiert immer von der Fläche her, konstruiert im zweidimensionalen Raster des Koordinatensystems. 5 zu 7, Maß zu Zahl, Bild zu Wand, Position zu Relation, Text zu Kontext, Kunst zu Realität.

Christian Wulffen, Papierarbeit, um 1985

M.Proust, À la recherche du temps perdu, korrigierte Druckfahne, 1913

Nicht anders verhält es sich in der Ausstellung Noch mehr Wulffen. Wir können diese Streifenraster, ob geometrisch exakt oder mit malerischem Pinselstrich, ob mit oder ohne Überraschungszutat, einfach als Werke der konkret-konstruktiven Kunst betrachten. Wir können sie aber auch anders sehen, oder besser gesagt 'lesen'. Dann wird die Linie zur Zeile, das Linienraster zur Spalte, die Unterbrechung zum Absatz und das Bild zum Text. Christian Wulffen wird beides recht sein.

Am Ende konnten die Ausstellungsmacher der Versuchung nicht widerstehen, zu dem vorhandenen Noch mehr noch einmal etwas hinzuzufügen, nämlich zwei sogenannte Frühwerke des Künstlers, Rahmen (1986) und Vier Teile (1989). Im Kontext dieser Ausstellung zeigen sie zweierlei. Erstens: ein Bild ist ein Bild, auch ohne Leinwand, ohne Linie oder Pinselstrich. Zweitens: die Wirklichkeit (verzogener Holzleisten) erreicht niemals die Exaktheit der Idee, egal ob Finished oder Unfinished.

Text: Gabriele Kübler
Fotos: Manfred Wandel